Im Amt Neuhaus blühte einst die Pferdezucht

Erschienen am 16.09.2014

Ein Blick in die Geschichte führt über das Hamburger Derby
in die leidvolle Zeit der Zwangskollektivierung

(eine Betrachtung von Wilhelm Kruse aus Dahlenburg)

Der Parcours in Klein Flottbeck mit seinen vielen Naturhindernissen wie dem großen Wall, Pulvermanns Grab, Holsteiner Wegesprünge, Birkenoxer oder Trakehner Graben usw., wurde 1920 vom Kaufmann Eduard Pulvermann gebaut. Die Hindernisse auf dem 1.230 Meter langen Kurs sind nie verändert worden. Für die Pferde damals, die bei den Bauern tagsüber im Arbeitsgeschirr standen, war es umso schwerer das "Blaue Band" des Siegers zu gewinnen.

AFP's Cosmic Blue, mit André Plath (Poel) in diesem Jahr Zweiter des Hamburger Derbys, geht im fallenden mütterlichen Stamm auf Stuten aus dem Amt Neuhaus zurück.
Foto: Jutta Wego

In der 94-jährigen Geschichte gab es in diesem Jahr erst den 150. Null-Fehler-Ritt. Und den lieferte der Mecklenburger Reiter André Plath von der Insel Poel auf dem zehnjährigen braunen Wallach AFP’s Cosmic Blue. Von den 31 Startern kamen nur zwei mit Null durch. Der Holsteiner Nisse Lüneburg auf Calle-Cool, der das Derby schon 2012 gewonnen hatte, und eben AFP’s Cosmic Blue. Beim Stechen hatte dieser einen Fehler. Nisse Lüneburg gewann zum zweiten Male das Blaue Band, Plath holte Silber.

 

 

Wilhelm Kruse aus Dahlenburg ist ein Kind der Neuhäuser Scholle und hat sich über die Pferdezucht der Region und deren Geschichte Gedanken gemacht. Foto: Jutta Wego

 

 

 

 

25.000 Zuschauer bejubelten Beide in stehenden Ovationen. In den letzten Jahren sind es zunehmend Mecklenburger und Holsteiner, die ganz vorne mitmischen. Dritter wurde Holsteins Springreiter Carsten Otto Nagel auf dem braunen Hengst Lex Luga, die 2010 als Sieger hervorgingen. Lex Luga, Calle Cool und auch AFP’s Cosmic Blue sind besondere Derbypferde. Alle werden auf diesen ungewöhnlichen Parcours hin speziell trainiert. Im Fall von AFP’s Cosmic Blue hat Christin Köpp (Tochter des Züchters von Chacco-Blue) großen Anteil an dessen Spezialtraining wie André Plath selbst sagt. Bei den ersten Hindernissen kann man schon sehen, ob es ein Derbypferd ist oder nicht.

Der Mecklenburger Blondschopf André Thieme aus Plau am See hat das Derby auf dem unvergessenen Nacorde, dem es als "Ruheständler" sehr gut geht, dreimal gewonnen. Nach dem dritten Sieg ritt er als Dank an sein Pferd immer noch eine Ehrenrunde und umfasste vor Freude Nacordes Hals mit beiden Armen. Das Publikum tobte. Die Mecklenburger Fans, konzentriert am Wall sitzend, schrien vor Freude und ich war auch dabei. Der weltbekannte Dithmarscher Bauernsohn Fritz Tiedemann gewann das Derby fünfmal, sowie 1956 und 1960 mit der Mannschaft Gold bei den olympischen Spielen. Auch bei AFP’s Cosmic Blue‘s Nuller war Stimmung im Stadion.

2008 hat Wilhelm Kruse ein Forum mit vielen Züchtern und Pferdefreunden in Neuhaus organisiert mit einer Dokumentation und Fotoausstellung von hervorragenden Pferden aus der Region. Foto: Jutta Wego

Seine Gene sind mecklenburgisch und hannoversch geprägt. Der bei seinem Besitzer Paul Schockemöhle viel zu früh verstorbene Vater Chacco-Blue, gezogen bei Heinz Köpp (Groß Stieten) und von André Plath bis zum Bundeschampionat in den Sport gebracht, hat einen Mecklenburger Brand und zeugte viele S-Springpferde.

Seine Mutter ist die Jandra, eine Tochter des Redefiner Elitehengstes Juventus. Im fallenden Stamm stehen Hengste wie Apollo (v. Adept), Santos (v. Semper) und der Vollblüter Grollus xx. Nun kommt die einstige Züchterhochburg Neuhaus und Bleckede ins Visier. AFP’s Cosmic Blue‘s fünfte Mutter im fallenden Stamm ist die 1960 geborene Grummunde vom legendären Hannoveraner Gruss. Züchter dieser Stute ist Fritz Voss, Neu Garge. Sie wurde drei- und vierjährig 1963/64 für die DDR Landwirtschaftsausstellung in Leipzig-Markkleeberg auserwählt und hoch prämiert. Grummundes Mutter Dollardolly brachte bei Fritz Voss 16 Fohlen, fast ein biologisches Wunder. Deren Mutter Doline kaufte Voss Anfang der 1950er Jahre von dem damals bedeutenden Züchter Friedrich Niebuhr aus Neu Garge. Dolines Mutter Allerkarte gilt also als Stammmutter aller hier aufgeführten Pferde. Diese hübsche Fuchsstute stammte von dem sehr edlen Fuchshengst Allerdorf I ab, der nur ein Jahr (1940) in Stiepelse deckte. Mein alter Pferdefreund Hinrich Meyer aus Wendischthun pflegte zu sagen: "He ist to gaut west för uns".

Aus der Region Neuhaus stammt auch Wolfgang Brockmüller (links), der einst mit Tristan zu den erfolgreichsten Dressurreitern der DDR gehörte. Er und sein langjähriger Teamkollege vom ASK-Potsdam, Wolfgang Müller, waren bei dem Forum auch anwesend. Foto: Jutta Wego

Die Vergangenheit begegnet einem oft auf dem Lebensweg. Als Junge war ich oft bei Herrn Niebuhr im Stall. Wenn die Pferde dann nach der Arbeit gefüttert waren - Häcksel und Hafer - dann sagte er: "Wilhelm, du kannst jem jetzt na de Koppel bringen". Ich ritt natürlich Allerkarte und die andern drei oder vier rechts von mir, die Zügel um den einen und anderen Hals. Ich war stolz, wenn ich mit diesen edlen Stuten losreiten durfte.

Noch eine schöne Erinnerung aus der einstigen Hochburg der Hannoverschen Pferdezucht in der Neuhauser Elbmarsch: Die Vorfahren mütterlicherseits des Fuchshengst For Pleasure, eines der erfolgreichsten Springpferde aller Zeiten, der unter Lars Nieberg und Marcus Ehning alles gewonnen hat, was es zu gewinnen gibt, grasten auf den Weiden des großen Züchters und bis 1945 Vorsitzenden des Neuhauser Pferdezuchtvereins, Otto Kufke im Haar. Hier befand sich auch die legendäre Deckstation.

Aus all diesen Beispielen kann man ersehen, welch hohen kulturellen aber auch wirtschaftlichen Stellenwert die Pferdezucht im Amt Neuhaus genoss. Auch die Rinderzucht wurde hier auf höchstem Niveau betrieben.

Als ich 1949/50 nach Stiepelse zur Konfirmandenstunde ging, liefen überall auf den Hofkoppeln Mutterstuten mit ihren Fohlen und die Höfe waren belebt und gepflegt. Schöne Blumengärten zum Deich hin und alles geharkt. Gerade wenn wir sonntags mit Mutter zur Kirche gingen fiel das auf. Das sind schöne Erinnerungen.

Buchstäblich über Nacht änderte sich das ab 2. Juni 1952. Mit der Aktion "Ungeziefer", generalstabsmäßig vorbereitet, ging das "Von-den-Höfen-jagen" an der zirka 1.400 km langen Grenze zeitgleich los. In Stiepelse waren es sechs Höfe. Nach welchen Kriterien ausgesucht wurde, weiß man bis heute nicht. Wenn man diese Tragödie 25 Jahre nach der Wiedervereinigung so betrachtet: Die meisten Bauernfamilien zerbrochen, Höfe und auch die Pferdezucht, gerade in den Marschen an der Elbe, total vernichtet. Den Rest besorgte die Zwangskollektivierung 1960. (Wilhelm Kruse)

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