Die Lebensgeschichte der Mecklenburger Stute Disecke
Erschienen am 10.12.2014
Mit Pferden ist es wie mit Menschen. So lange sie in der Öffentlichkeit aktiv sind, spricht man über sie, kennt man sie. Wenn sich beide Spezies aus Alters- oder Gesundheitsgründen zurückziehen, selbst wenn sie weiterhin hinter den Kulissen viel leisten, sind sie in der öffentlichen Wahrnehmung schnell vergessen.
Die Distello-Stute Disecke kurz vor Vollendung ihres 29. Lebensjahres - zwar vom Alter gezeichnet aber immer noch voller Lebensmut. Foto: Schlönvogt
Das trifft auch für eine Mecklenburger Stute zu, die in wenigen Monaten ihr 29. Lebensjahr vollendet. Die Rede ist von der Distello-Tochter DISECKE. Ein mit Stockmaß 1,60m eher kleines Pferd, aber mit einem großen Herz ausgestattet. Bei Fritz Hannemann in Gützkow, der bis zu Beginn der 1960er Jahre in Bandelin selbst aktiver Turnierreiter war, erblickte die braune Stute 1986 das Licht der Welt. Hannemann gehörte damals zu den wenigen Züchtern, die, trotz staatlicher Widerstände angesichts des sozialistischen Umfelds, auf privater Ebene Pferde züchteten. Neben Disecke, die er mit seiner Dekor / Sender / Apriko-Stute Decke gezogen hat, ist er auch Züchter der einst unter Luisa Blach (Poel) hocherfolgreichen Ponystute Lotusblume.
Der etwas schwache Rücken war schon immer das Markenzeichen der Stute wie hier unter Carsten Schlönvogt zu sehen, was sie aber nicht daran hinderte erfolgreich zu sein.
Die Stute mit der markanten, etwas schwachen Oberlinie, in Verbindung mit der Größe nicht unbedingt Vorzugseigenschaften für ein Springpferd, aber mit einem Vater, der als guter Springpferdevererber bekannt war, kam in der Zeit der politischen Wende in den Besitz von Wenke Reinholz, die viele noch unter ihrem Mädchennamen Schultz kennen. Sie gehörte damals zur Turnierreitergruppe in Gützkow, wo auch Carsten Schlönvogt pferdesportlich aktiv war. Der Ort Gützow hat in den Ohren alter Pferdeleute des ehemaligen Bezirkes Rostock noch heute einen guten Klang. Der Zahnmediziner Dr. Alfred Preuß hatte dort ein Turnier etabliert, an dem sogar die damaligen Sportclubs der DDR mehrfach teilnahmen. Gützkower Reiter, so auch Wenke Reinholz, vor allem aber der heute 52-jährige Carsten Schlönvogt, waren, bis der Verein 1998 aufgelöst wurde, auf allen Turnieren im Land präsent und erfolgreich. Ulrich Meier, der damalige LPG-Vorsitzende, war bis 1990 einer der bedeutendsten Förderer des Pferdesports in Gützkow.
In ihrer aktiven Zeit gehörte Disecke unter Carsten Schlönvogt zu den Pferden die man immer für eine Platzierung einkalkulieren musste. Foto: Jutta Wego
Als Disecke vierjährig war, hatte man ihr nicht viel zugetraut und kaum einer hätte geglaubt, dass sie einmal ein so erfolgreiches Springpferd werden würde. Sie war bereits sechsjährig, als Wenke Reinhold, die nach wie vor ihre Besitzerin ist, in einem A-Springen in Ahrenshoop die erste Schleife mit ihr holte. 1993 kam sie, neben gelegentlichen Einsätzen unter ihrer Besitzerin, in den Beritt von Carsten Schlönvogt. In Wusterhusen waren die Zwei im Juli 1993 im Stechen eines L-Springens erstmals erfolgreich und wurden Dritte.
Von da an ging es sportlich bergauf und kaum ein Turnier, von dem Carsten Schlönvogt und Disecke nicht mit Platzierungen nach Hause kamen. Den ersten M-Sieg gab es für die Zwei 1995 in Dersekow. 1996 und 1997 sattelte Carsten Schlönvogt Disecke in Sukow sogar zum Barrierenspringen der schweren Klasse. In den hohen Springen wurde der Mut der Stute besonders deutlich, wenn man bedenkt dass sie nur 1,60m groß war. Die besondere Eigenschaft der Distello-Tochter war ihr sehr rationales Springen, mit exzellenter Vorhandtechnik und viel Übersicht am Sprung. "Man hatte manchmal das Gefühl, dass sie nicht hoch genug springen würde, weil sie stets sehr dicht über den Stangen war", erinnert sich Carsten Schlönvogt. "Aber sie war vor allem eine Kämpferin und ging bis an ihre Grenzen."
Der schon einige Jahre verstorbene Fritz Hannemann aus Gützkow hat Disecke 1986 mit Distello und seiner Dekor-Stute Decke gezogen. Foto: Jutta Wego
Disecke, inzwischen deutlich vom Alter gezeichnet, steht immer noch in dem früheren Stall und auf den Koppeln der Gützkower direkt am ehemaligen Turnierplatz und wird von Wenkes Vater betreut. "Ich verdanke Disecke schöne gemeinsame Erfolge", blickt Carsten Schlönvogt dankbar zurück.
Bis 2001 ging Disecke 100 Mal auf die Ehrenrunden, fünfmal führte sie sie als Siegerin an, war 15 Mal Zweite und ebenso oft Dritte. 32 Platzierungen holte sich Besitzerin Wenke Reinhold mit ihr, mit 68 Schleifen bescherte sie Carsten Schlönvogt. In Wusterhusen und Spantekow hörte sie 2001 gemeinsam mit ihrer Besitzerin letztmalig Ehrenmarschmusik. Danach wurde Disecke Mutter, brachte vier Fohlen und trug junge Reiter zur Ausbildung auf ihrem "Senkrücken". Aus den Fohlen wurden ausnahmslos handliche Freizeitpferde. (FW)